Kannst du Musik sehen?

visuell-gitarre-lernen

1. Einleitung

Im vorangegangenen Blogbeitrag erwähnte ich bereits, dass große Komponisten und Musiker in ihren musikalischen Sternstunden vor allem visuell orientiert sind.¹ Was zunächst wie ein Paradoxon klingt, sieht nach einer kurzen Analyse mit Techniken aus der Lernforschung viel einleuchtender aus. In diesem Blogartikel erkläre ich, was musikalisches Lernen mit dem visuellen Lernkanal bedeutet und wie du dein Gitarrenspiel damit voranbringst.

1.1 Gitarrenunterricht im Monolog

Die folgende Gitarrenstunde erlebte ich als Gitarrenschüler vor meinem Musikstudium.

Gitarrenlehrer: „Na, die Improvisation über die Akkorde hat ja noch nicht so gut geklappt. Ich verstehe gar nicht, warum dir das so schwerfällt?“
C: „Bei dir sieht das so leicht aus, wie machst du das?“
Gitarrenlehrer: „Ganz einfach, ich sehe hier den F-Dur-Akkord (greift F-Dur und zeigt mit der freien Hand auf die gegriffenen Töne). Wenn das der Grundton ist, sehe ich hier die None und dann blitzt hier die Terz auf (zeigt mit dem Finger auf einen weiteren Ton), wie kann es auch anderes sein und die Quinte als Griffbild direkt hier. Spiele ich diese Töne so hintereinander, dann kann ich mich schon dem nächsten Akkord widmen, den sehe ich hier…“

1.2 Musik sehen im Gitarrenunterricht

Was ich damals nicht verstanden hatte, war, wie der Gitarrenlehrer in so kurzer Zeit so viele Parallelen ziehen und auf viel Wissen umgehend zugreifen konnte. Teilweise wendete er die Improvisation noch schneller an, als er sie erklärt hatte. Akkorde, Melodiespiel und Improvisation schienen für ihn dasselbe zu sein. Es wirkte, als würde er mit den Worten der Erklärung nicht hinterherkommen.

Sicher kennst du diese Situationen, in der dir Lehrer oder Trainer erklären, was sie machen und warum das in diesem Augenblick so richtig ist. Dabei wäre doch viel spannender zu wissen, wie sie es sich beigebracht haben und wie sie so gut und so schnell in der (musikalischen) Umsetzung geworden sind.

2. Der visuelle musikalische Lernkanal

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2.1 Training zum visuellen Lernkanal

Mit dem folgenden Training lade ich dich dazu ein, die Energie von (inneren) Bildern kennenzulernen. Am einfachsten funktioniert es mit einem Partner, du kannst dies aber auch allein erleben. Los geht’s.

  1. Nimm dir für die folgende Übung bitte maximal 5 Minuten. Beende sie nach 5 Minuten, auch wenn du meinst noch nicht fertig zu sein. (Nutze, wenn möglich, einen Timer z.B. deines Smartphones.)
  2. Setze dich entspannt auf einen Stuhl und schließe, wenn du magst, deine Augen. Richte nun deine Aufmerksamkeit nach innen.
  3. Stelle dir bildlich einen eingerichteten Raum vor, den du gut kennst.
    • Z.B dein Kinderzimmer, Klassenzimmer, dein Raum auf Arbeit oder im Fitnesscenter, dein Schlafzimmer, den Hobbykeller, deine Schwimmhalle, dein Wohnzimmer, Gitarrenraum, Bandproberaum….
  4. Konzentriere dich nacheinander auf möglichst viele Details, die es in diesem Raum zu entdecken gibt.
  5. Beginne nun laut deinem Übungspartner oder dir selbst den Raum zu beschreiben.
    • Bitte beschreibe zügig und lass wirklich kein Detail aus.
    • Beginne z.B. mit der Größe, der Anzahl an Türen und Fenster, einer Beschreibung der Wände, Möbel, dem Fußbodenbelag, Farben, Beleuchtung, Bilder, …
    • Gehe vom Groben ins Feine und beachte jede noch so winzige Kleinigkeit.
    • Die Reihenfolge ist hierbei egal, nur bitte beschreibe wirklich alles, was es zu sehen gibt.

6. 5 Minuten sind um? Und Stopp!

2.2 Auswertung

Du fragst dich bestimmt, was zum Teufel hat das jetzt mit Gitarrespielen zu tun? Wie macht mich das besser? Wie werde ich dadurch schneller und genauer?

Ein einziger Parameter hilft dir bei der Beantwortung dieser Frage. Wie hoch war die Informationsdichte deiner Beschreibung unter Punkt 5? Bestimmt bist du stark ins beschreibende Erzählen gekommen. 5 Minuten reichen eigentlich nicht aus um den Inhalt eines Raumes perfekt wiederzugeben. Jedoch konntest du mit deiner Beschreibung deinen Trainingspartner oder dich mit einer Vielzahl an inhaltlichen Informationen überhäufen. All das war dir vor allem dank der bildlichen Vorstellungstechnik möglich.²

Wie wäre es nun, wenn wir eine Brücke zu unserem Gitarrenspiel bauen, indem wir unseren visuellen Lernkanal beleuchten? Folgerichtig müssten uns eine Menge an musikalischen Informationen (z.B. Griffpattern von Dreiklängen, Vierklängen, Intervallmuster, Tonleiterausschnitte und Akkorde sowie Funktionen) zur Verfügung stehen.

3. Übungen zum visuellen musikalischen Lernkanal

Mit den folgenden Übungen gebe ich dir einen ersten Einblick, wie du deinen visuellen Lernkanal stärken kannst und damit dein Gitarrenspiel voranbringen wirst. Diese Übungen sind Ideen. Am besten, du schaust, welche dir am meisten zusagen und vertiefst diese auf deine individuelle Art.

Während die erste Übung so ziemlich jeder an der Gitarre erleben kann, werden für Übung Nr. 2 das Spiel einer Tonleiter und für Übung Nr. 3 das Spiel verschiedener Lagerfeuerakkorde und Dreiklänge benötigt. Aber keine Bange, diese habe ich dir als Download zur jeweiligen Übung bereitgestellt.

3.1 Training der visuellen Wahrnehmung

  1. Such dir einen Übungsinhalt, an dem du gerade an der Gitarre arbeitest.
    • Tonleiter, Melodie eines Stückes, ein Riff, greifen einer Akkordfolge, Improvisation über eine Akkordfolge…
  2. Spiele diese Übungsinhalt und schaue auf die Bünde, in denen deine Finger nacheinander greifen.
  3. Stell dir nun vor, überall dort, wo deine Finger gerade aufgesetzt haben, würde eine LED aufleuchten. Sobald deine Finger den Punkt des Aufsetzens wieder verlassen, leuchtet die LED noch einige Zeit nach und erlischt langsam. Auch wenn deine Finger schon längst auf einem anderen Bund gelandet sind, kannst du dieses Nachleuchten noch wahrnehmen.
  4. Beobachte das Lichtspiel während des Trainings deiner Übungseinheit. Lass es auf dich wirken und sei neugierig, welche Gedanken dir dazu erscheinen.
  5. Nur mal angenommen (tue bitte so als ob) dieses Zusammenspiel aus den verschiedenen Lichtern würde einen Sinn ergeben, welche Lichtstraßen, Symbole, Figuren, Muster, Wege, Pfade könnten sich hierdurch ergeben?
  6. Verbinde diese visuellen Lichtmuster auf deine Art, mit den zugehörigen Aspekten deines musikalischen Übungsinhaltes.
  7. Spiele den Übungsinhalt auf deiner Gitarre erneut, indem du dir die zuvor entdeckten Lichtmuster vorstellst. Versuche mit steigender Anzahl an Wiederholungen die Finger vor allem durch die Vorstellung der Lichtmuster greifen zu lassen.

3.2 Die Ton-Leiter-Explosion

Diese Übung designte ich in Anlehnung an einen Workshop des Gitarristen Lionel Loueke, an dem ich im Mai 2014 teilnahm. Von Lionel Loueke nahm ich die Inspiration, die Tonleiter weniger als Ton-Leiter zu betrachten und mehr als losen Tonzusammenhalt, deren Reihenfolgen und deren Zusammenspiel frei bestimmt werden können. Für unser Gehirn gibt es nichts langweiligeres als geordnetes Vorgehen.³ Diese Übung erzeugt somit durch das Aufbrechen der Ton-Leiter-Töne Neugierde und verbindet diese mit visuellen Impulsen.

3.2.2 Übungsanleitung-Ton-Leiter-Explosion

  1. Such dir eine Tonleiter (z.B. C-Dur-Tonleiter) die du über eine komplette Lage (z.B. II. Lage) auf dem Griffbrett spielst.
  2. Spiele sie ein paar Mal vom tiefsten zum höchsten Ton und umgekehrt, sodass du mit dem Greifen der Töne Sicherheit gewinnst.
  3. Beginne nun wahllos einen Ton dieser Tonleiter zu greifen und halte diesen.
  4. Suche nun einen zweiten Ton der Tonleiter und spiele diesen zum gehaltenen ersten Tonleiterton. Es entsteht nun ein Zweiklang.
  5. Richte nun deine Aufmerksamkeit nach innen und überlege dir, an welche Figur, welches Symbol, welches visuelle Muster dich das Greifen dieser beiden Töne erinnert und speichere es auf deine Art ab.
  6. Finde nach diesem Schema weitere Zweiklänge.
  7. Erweitere diese Zweiklänge zu Drei- und Vierklängen.
  8. Achte jeweils auf die visuellen Eindrücke und Muster die hierbei entstehen und speichere diese ab.
  9. Spiele abschließend noch einmal die Tonleiter und achte darauf, wie sich deine inneren visuellen Strukturen aneinanderreihen und welche Muster sie ergeben.

3.3 Farbenlehre für Ohr und Griffbrett

Im vorangegangenen Blogartikel wies ich schon einmal darauf hin, dass das gleichzeitige Zusammenspiel zweier Sinneskanäle Synästhesie genannt wird. Musiker, die das gleichzeitige Zusammenspiel vom auditiven und visuellen Sinneskanal wahrnehmen, beschreiben hierbei häufig Klangfarben und Klangbilder. Mit der folgenden Übung lade ich dich ein, deinen Zugang zu dieser Art des Farbenhörens zu finden. In den folgenden Hörbeispielen stelle ich dir verschiedene Dur-Dreiklänge und Lagerfeuer-Akkorde sowie Moll-Dreiklänge und Lagerfeuer-Akkorde zur Verfügung. Der Sinn dieser Übung ist deine eigenen Vorstellungen von Klangfarben zu entwickeln und diese zu kategorisieren. Somit werden diese im eigenen Gitarrenspiel als farbliche Komponente zur Verfügung stehen.

3.3.2 Übungsanleitung – Farbenlehre für Ohr und Griffbrett

  1. Klicke auf Hörbeispiel Nr.1.
  2. Tue so, als ob die Dur-Dreiklänge und Dur-Lagefeuer-Akkorde, die du in diesem Beispiel hörst, zu einer Farbkategorie gehören.
  3. Nur einmal angenommen diese Klänge würden zu einer bestimmten Farbkategorie gehören, welche der folgenden Eigenschaften hätte diese Kategorie? Ist sie eher:
    • Hell / dunkel
    • Eine eindeutige Farbe / ein Farbenmix
    • Eine weite Farbe / eine enge Farbe
  4. Kannst du den Farbton dieser Kategorie genau bestimmen, wenn ja welcher wäre es?
  5. Spiele nun die Dreiklänge und Akkorde des Dur-Farbkategorie-Sheets und verbinde diese auf deine Art erneut mit deiner eben entdeckten Farbkategorie.
  6. Wiederhole die Punkte 1 bis 5 mit dem Hörbeispiel Nr.2 und dem Moll-Farbkategorie-Sheet für deine Entwicklung der Moll-Farbkategorie.
  7. Mache dir nun die Unterschiede der Dur- und Mollfarbkategorien bewusst und vergleiche sie in den folgenden Aspekten:
    • Hell / dunkel
    • Eine eindeutige Farbe / ein Farbenmix
    • Eine weite Farbe / eine enge Farbe
  8. Mach dir bewusst, wo dir diese Farben in deinem musikalischen Alltag wieder begegnen werden (z.B. Im Gitarrenspiel, beim Spotify-Hören, YouTube, Radio…).

4. Schlussbetrachtung

Für uns Gitarristen gilt wie für alle Instrumentalisten, dass wir unsere eigenen musikalischen Lernvorzüge genießen. Diese haben sich über längere Zeit herauskristallisiert und zeigen sich durch Bevorzugung bestimmter Sinneskanäle. Meine Erfahrung ist, dass dieses Bevorzugen einer bestimmten musikalischen Lernstrategie viel zu selten hinterfragt wird.

Mit diesem Blogartikel möchte ich genau hierzu einladen. Die Einbeziehung unserer visuellen Sinneswahrnehmung ist meiner Meinung nach ein entscheidender Schritt zum ganzheitlichen musikalischen Lernen, das ich ebenfalls in meiner Gitarrenmusikschule praktiziere.

Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem (visuellem) musikalischen Weg. Spätestens ab heute heißt es noch einmal mehr: Augen auf beim Spielen deiner Gitarre .

Herzliche Grüße
Christian

Quellen:

¹ Holmes, E. (1878): Life of Mozart: Including His Correspondence. Novello, Ewer & Co., London

² Buzan, T. (2000): Nichts vergessen!: Kopftraining für ein Supergedächtnis. Wilhelm Goldmann Verlag, München

³ Krengel, M. (2013): Bestnote: Lernerfolg verdoppeln, Prüfungsangst halbieren. Eazybookz, Berlin